Auszug aus Andreas Spiegl’s Text: „Die Wand als Bild“

Die „Wandbelichtungen“ von Birgit Graschopf basieren technisch auf einem Verfahren, bei dem die Künstlerin eine lichtsensible fotografische Emulsion auf eine Wand aufträgt und dann mit einer Bildprojektion belichtet, um das entsprechende Bild direkt an der Wand zu entwickeln. Auf diese Weise werden die Wände zu Bildträgern und die Bilder erscheinen als räumliche Setzungen – sie wachsen über ihre Zweidimensionalität hinaus, um den dreidimensionalen Raum seinerseits mit den Koordinaten eines illusionistischen Bildes zu verbinden. Die dimensionale Differenz zwischen Bild und Raum scheint sich zugunsten eines dialogischen Übergangs vom einen zum anderen aufzulösen und dem Versprechen vom Bildraum eine buchstäbliche Form abzugewinnen:
Zu schwinden scheint die Grenze, die beide voneinander trennt, um die Dimension des illusionistischen Bildes schon in der Begrenzung des Raums zu erkennen, und im Bild die Räumlichkeit fürs Vorstellbare. Die illusionistische Dimension der Wandbelichtungen reißt Löcher in die Wand, dringt durch deren opakes Geviert, um sich über Sichtgrenzen hinwegzusetzen, den Raum des Bildlichen da beginnen zu lassen, wo die Raumgrenzen enden. Um als Bild zu erscheinen, bedient sich dieses der Wand, die es zugleich einreißt: Technisch ist es in dieser Hinsicht dem Parasitären so verwandt wie historisch dem Trompe l’œil.
Beiden Figuren verbunden ist die Arbeit Space Shift von 2010,


bei der die Künstlerin aus einer Wand zwischen zwei Räumen ein rechteckiges Feld herausgeschnitten hat, um einen Blick in den benachbarten Raum zu ermöglichen und diesen wiederum mit einem weiteren Ausblick auf eine illusionierte Landschaft ein zweites Mal zu durchbrechen und bildhaft zu erweitern. Im Geviert der Leerstelle verwandelt sich die Wand zum Bildrahmen, der den angrenzenden Raum dahinter wie ein Wandbild umfängt: Wo vordem eine Mauer war, erhebt sich aus der Leerstelle der Eindruck eines Bildraums, der den Raum dahinter zum Raumbild erklärt. Auf diese Weise unterstellt die Künstlerin den manifesten, dreidimensionalen Raum den Koordinaten des Bildes, das sich jenen illusionistisch einverleibt. Vorstellungen von Bild und Raum kippen vexierbildhaft hin und her, gehen unvermeidlich ineinander über, spiegeln sich nicht unweit von dem Schritt, den Lewis Carrolls Alice durch den Spiegel macht, um den Bildraum jenseits von Raum- und Bildgrenzen zu betreten. Nur ist es hier nicht die Phantasie, der Raum gegeben wird, sondern es ist der Raum selbst, der sich gleich einer Phantasmagorie aus seiner dreidimensionalen Haut schält, um als Bild wahrnehmbar zu werden. Unter den Koordinaten des Bildes vermittelt sich der betretbare Boden nur als Metapher fürs Doppelbödige, fürs Zwiefache und Zwiefältige, das sich aus dem „Durchblick“ erhebt. Bild und Raum kreisen um ihre Zwiespältigkeit als ihren gemeinsamen Nenner. An der nächsten Wand, an der nächsten Grenze des Manifesten erscheint dann die Wandbelichtung, das Bild, das eine Person zeigt, die in der Pose eines Betrachters oder Beobachters an einem Geländer lehnt, um über eine Landschaft zu blicken. Die Rolle, die man beim Besuch der Ausstellung übernimmt, wiederholt sich doppelgängerisch im Bild, auf das man blickt. Ganz nah vernimmt man die Redewendung vom „sich beim Beobachten beobachtenden Beobachter“, in der Spiegelung und Wiederkehr der eigenen Wahrnehmungsbedingungen. Das Bild nimmt das Betrachten eines Bildes schon vorweg, eilt dem Betrachten als Doppelgänger voraus. Das Doppelbödige und der Doppelgänger gehen ineinander über, das Bild wiederholt, wie es gesehen wird, es hält danach Ausschau, wie ihm zugesehen wird, öffnet den Blick für das Paradigmatische im Sehen. Diesmal wird die Wand mit den illusionistischen Mitteln des fotografischen Verfahrens eingerissen, sie öffnet sich dem Panorama des Illusionistischen. Der bildhafte Ausblick durch die Wand wiederholt die Öffnung der gegenüberliegenden Leerstelle, gibt vor, die Wand ein zweites Mal einzureißen. Parasitär nährt sich das Bild von der Wand, die es durchbricht. In diesem Durchbruch gibt sich das Analogon zu erkennen – das analoge Verhältnis, das er zum Wanddurchbruch gegenüber unterhält. Der Hinweis auf das analoge fotografische Verfahren, das die Künstlerin für ihre Wandbelichtungen heranzieht, soll hier genügen, um auf die Analogiekette zu deuten, die Raum, Bild und Fotografie hier aneinander fesselt. Der Riss, der Durchbruch durchbricht hier dimensionale Grenzen genauso wie mediale. Die analoge Fotografie zerreißt die Fesseln, die das mediale Format nahelegt, die Vorstellung von einem Bild auf Papier. Mit diesem Verfahren wachsen die Fotografien über die Vorstellungen von „Fotos“ hinaus, sie lösen sich vom Bild, um den Raum, in dem sonst Bilder gezeigt werden, selbst zum Raumbild werden zu lassen.